«Wenn wir Menschen mit einer Suchterkrankung stigmatisieren, verlängern wir ihre Not» – Interview mit Ueli Mäder

Der Soziologe Ueli Mäder spricht an der Stakeholderkonferenz Sucht vom 21. Juni 2022 darüber, wie Sucht stigmatisiert. Die Suchtprävention müsse über die Arbeit mit Einzelnen hinaus immer auch das gesellschaftliche Umfeld einbeziehen.

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Sie forschen seit Jahren zu den Themen Ungleichheit, Macht und Armut. Welche Botschaften übermitteln Sie an der Stakeholderkonferenz Sucht?

Ueli Mäder: Mein Beitrag ist ein soziologischer. Das Umfeld der Sucht spielt ja stets mit; egal, ob wir von Alkohol, Macht oder Anerkennung abhängig sind. Mich interessiert die Dynamik zwischen Individuen, Angehörigen und der Gesellschaft. Was wirkt wie: positiv oder negativ? Was motiviert Erkrankte zum Ausstieg? Und was stigmatisiert sie, zusammen mit Mitbetroffenen?

Das Stigma der Sucht als selbstverschuldete Charakterschwäche hält sich hartnäckig. Wieso kommen wir nicht davon los?

Wir leben in einer stark individualisierten Gesellschaft. Das zeigt sich auch bei sozial Benachteiligten. Sie bürden sich viel auf; auch Lasten, die vor allem gesellschaftlich mitverursacht sind. Statt die niedrigen Einkommen zu problematisieren, sagte mir beispielsweise eine Verkäuferin, die viel arbeitet und wenig verdient, sie sei selber schuld und hätte halt in der Schule besser aufpassen müssen. Umgekehrt klopfen sich Privilegierte auf die eigene Schulter. Sie meinen, sogar hohe Erbschaften selber erwirtschaftet zu haben.

Was bedeutet das Stigma für Betroffene und Angehörige?

Wer stigmatisiert wird, fühlt sich abgewertet. Das erhöht Schamgefühle und lässt innerlich auch Wut aufkommen. Angehörige verstärken zuweilen den Fingerzeig, um sich selbst abzugrenzen und zu entlasten. Meistens leiden sie aber mit und haben ein schlechtes Gewissen.

Wie sollen Fachpersonen mit Stigmatisierungen umgehen?

Fachleute müssen Betroffene von diesem Druck entlasten. Sie können beispielsweise darauf hinweisen, dass viele andere ähnliche Probleme haben. Das hilft Stigmatisierten, sich weniger mit Selbstvorwürfen zu überfrachten.

Wie vermeiden Fachpersonen eigene Stigmatisierungsprozesse?

Fachpersonen sind selbst Kinder ihrer Zeit. Wichtig sind daher Selbst-Reflexion und Supervision. Wir sind alle gefährdet, uns insgeheim über andere zu erheben. Das ist fatal und kontra produktiv. Umso wichtiger sind kritische Korrektivs, die uns auf selbst gefällige Machtgehabe und darauf hinweisen, wie wir diskriminierende Zuschreibungen übernehmen.

Personen, die über wenig Ressourcen verfügen, sind eher suchtgefährdet als gut situierte Personen. Warum?

Ja, es gibt eine einfache Wechselwirkung. Je tiefer die Einkommen, desto ausgeprägter sind gesundheitliche Beeinträchtigungen. Damit verstärkt sich die Disposition, erlebten Mangel zu kompensieren. Aber aufgepasst, Privilegierte können ihre Handicaps und Süchte oft einfach besser verstecken.

Was heisst das für die Suchtprävention?

Wir müssen, über die Arbeit mit Einzelnen hinaus, immer auch das gesellschaftliche Umfeld einbeziehen. Dazu gehört, wie der soziale Wandel unsere Lebensverhältnisse zunehmend kommerzialisiert und ökonomisiert. So verstärken sich einseitige Abhängigkeiten und Sucht-Dispositionen.

Wo sehen Sie gesellschaftlich und politisch Handlungsbedarf, damit Menschen mit einer Suchterkrankung nicht mehr stigmatisiert werden?

Wir müssen sehen, wie zufällig es ist, wo wir geboren werden. Die einen haben mehr, andere weniger Glück. Diese einfache Einsicht kann dazu beitragen, den sozialen Ausgleich mehr zu fördern. Aus meiner Sicht ist das dringlich. Hinzu kommt: Wenn wir Menschen mit einer Suchterkrankung stigmatisieren, verlängern wir ihre Not. Das erhöht gesellschaftliche Kosten, beelendet aber vor allem auch mit betroffene Kinder und weitere Angehörige.

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