Wie sind Menschen mit einer Suchterkrankung durch die Covid-19-Pandemie gekommen?

Insgesamt sind die Menschen mit einer Suchterkrankung besser durch die Pandemie gekommen, als erwartet - physisch, aber oft auch psychisch. Zu diesem Schluss kommen eine Expertin und vier Experten in einer Diskussionsrunde, die im Jahr 2022 auf Video aufgezeichnet worden ist. Die Expertengruppe blickt zurück auf die Covid-19-Pandemie und spricht über engagierte Suchtfachleute, erstaunliche Erkenntnisse, bestehende Herausforderungen und Verbesserungen, welche die Pandemie mit sich brachte.

Experten red

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Im Januar 2022 haben Studienergebnisse vom Zentrum für Suchtmedizin arud die Fachwelt überrascht: Personen in der Opioid-Antagonisten-Therapie von arud haben sich viel häufiger mit Covid infiziert, als der Rest der Bevölkerung. Gleichzeitig haben die Angestellten des arud aber kaum Symptome bei ihren Klientinnen und Klienten beobachtet: Von den 1500 arud-Patientinnen und Patienten musste nur eine Person wegen Covid 19 hospitalisiert werden. «Wir haben erwartet, dass diese Gruppe verletzlicher ist. Wir dachten, sie müsste schwerer an Covid erkranken», erzählt Thilo Beck, Co-Chefarzt des arud. Denn die physische Kondition der Patientinnen und Patienten sei schlechter als im Schweizer Durchschnitt. «Es war aber anders: Sie waren infiziert, hatten aber keine Symptome. Es war eine grosse Entlastung, als wir wussten, dass die Leute, die wir behandelten, Covid gut wegstecken konnten.» Und zwar besser, als der Rest der Bevölkerung. In der Diskussionsrunde eruiert er möglich Gründe. «Wir glauben an eine Cross-Immunität», erklärte er. «Durch die Art, wie diese Personen leben, waren sie über die Jahre verschiedenen Viruserregern ausgesetzt.» Suchthilfe-Professorin und Suchtmedizinerin Barbara Broers vermutet aber mitunter auch, dass das vorbildliche, interdisziplinäre Therapiesystem bei arud dazu beigetragen hat, dass die Betroffenen die Covid-Erkrankungen so gut weggesteckt hätten. Selbst wenn die Personen in schlechter Verfassung waren, so waren sie doch bestens umsorgt und betreut. Gleichzeitig berichtet Broers von ähnlichen Beobachtungen, die sie während der ersten Welle von Covid-19-Erkrankungen in Genf gemacht hat: Ganz allgemein seien Menschen mit einer Suchterkrankung damals kaum ernsthaft erkrankt. Während die Situation für die arud-Patienten auch in den weiteren Covid-19-Wellen vergleichbar blieben, beobachtete Barbara Broers in der zweiten Welle mehr covidbedingte Hospitalisationen bei Suchtkranken: «Die Unterscheide, die wir in der ersten Welle beobachtet haben, waren komplett verschwunden.»

Wie haben die Fachleute ihre Klientinnen und Klienten während der Pandemie erlebt?

Natürlich hat jede Person mit einer Suchterkrankung die Pandemie individuell erlebt. Dennoch haben die Experten ein paar Gemeinsamkeiten festgestellt. Gerade für obdachlose Menschen hat sich die Situation in der ersten Welle verbessert. Normalerweise sind die Notunterkünfte nur abends geöffnet, das heisst, tagsüber halten sich obdachlose Menschen im öffentlichen Raum auf. Mit dem Ziel, dass sie möglichst wenig Kontakte hatten, wurde ihnen plötzlich für 24 Stunden pro Tag ein Dach über dem Kopf angeboten. Das hatte positive Effekte: Die Betroffenen haben weniger konsumiert, auch weil sie sich weniger im öffentlichen Raum aufgehalten haben. Auch andere Suchtbetroffene haben die Situation eher positiv erlebt. «Sie fühlten mehr Solidarität. Mehr Leute haben ihnen geholfen» beruft sich Frank Zobel von Sucht Schweiz auf eine Umfrage, die während der ersten Welle bei Suchtbetroffenen in Lausanne durchgeführt worden ist.

Ein weiterer positiver Effekt: «Sie bewegten sich weniger in der Drogenszene und konsumierten mehr zuhause. Das reduzierte Stress, denn die Interaktionen in der Szene und mögliche Polizeikontakte beim Dealen sind ein Stressfaktor.»

Den dritten positiven Effekt, den die Befragten nannten: Die Fachleute waren fürsorglicher. Die Befragten spürten, dass sich ihre Ansprechpersonen um sie bemühten und nach Lösungen suchten.

Andere Menschen mit einer Suchterkrankung erlebten die Pandemie und die begleitenden Schutzmassnahmen allerdings als sehr schwierig. Barbara Broers hebt hier ältere Menschen mit eine Alkoholabhängigkeit heraus: «Sie wollten gerne in unsere Sprechstunde kommen, auch weil sie wenig soziale Kontakte haben. Wir durften die Sprechstunden aber nicht mehr durchführen, also mussten wir die Personen anrufen. Für viele war es schwierig, ohne diese Routine von Behandlungsbesuchen auszukommen. Zudem war das Gastgewerbe geschlossen. Viele waren sehr, sehr einsam. Vor allem während der zweiten Welle.» Auch jüngere Patientinnen und Patienten erlebten teilweise viel Stress. Einige haben wegen der Schutzmassnahmen ihren Job verloren, hatten finanzielle Probleme oder litten an Einsamkeit.

Grosses Engagement der Suchtfachleute

Die Experten sind sich einig: Während der Pandemie haben die Suchtfachleute grosses Engagement und viel positive Energie gezeigt. Sie haben viel geleistet und neue Wege gesucht und gefunden, um mit ihren Klientinnen und Klienten in Kontakt zu bleiben: Sie haben ihre Klientinnen und Klienten angerufen oder sind gar zu ihnen nach Hause gegangen, z.B. um gebrauchte Nadeln gegen frische einzutauschen.

Die Massnahmen zum Schutz vor Covid-19 brachten viele Herausforderungen mit sich, es gab viele konkrete Fragen zu klären. Zwischen den Fachleuten gab es einen regen Austausch. «Man versuchte nicht, im Alleingang zu arbeiten, sondern zusammen,» erinnert sich Barbara Broers zurück. Dabei war es aus ihrer Sicht wichtig, dass die Fachleute auf bereits bestehende Netzwerke zurückgreifen konnten.

Mit den vielen Herausforderungen konfrontiert zeigten sich die Suchtfachleute überall in der Schweiz sehr kreativ: so z.B. wurden zusätzlich Container aufgestellt, um die Sicherheitsabstände in den Konsumräumen einzuhalten.

Sieben-Tage-Takehome – «eine positive Errungenschaft der Pandemie»

Thilo Beck erlebte es als sehr positiv, dass seine Patientinnen und Patienten während der Pandemie mehrere Tagesdosen für ihre heroingestützte Behandlung nachhause mitnehmen konnten. Anstelle der fixen Termine blieb mehr Zeit für Familie und Hobbies – einige seiner Patientinnen und Patienten fühlten sich besser denn je. Thilo Beck macht sich dafür stark, dass diese Errungenschaft der Pandemie erhalten bleibt. «Aus medizinischer Sicht macht es keinen Sinn, solche Restriktionen auf eine medizinische Behandlung zu haben», erklärt er. «Es gibt keinen logischen Grund, nur täglich eine Dose abzugeben, und die Betroffenen leiden darunter. Es ermöglicht ihnen kein autonomes Leben, sie leiden unter der starken Abhängigkeit vom System.»

Drogenmarkt blieb konstant

Die Abwasserproben während der Covid-19-Pandemie zeigten: Substanzen wurden stets etwa im gleichen Ausmass konsumiert. «Wir nahmen an, dass der Drogenmarkt kollabieren würde, weil es auf den Drogen-Lieferrouten diverse Länder mit Lockdowns gab», erzählt Frank Zobel von Sucht Schweiz. «Wir hatten Angst, dass für Menschen mit einer Abhängigkeit weitere Probleme entstehen, weil sie sich ihre Drogen beschaffen müssen. Wir befürchteten, dass Betroffene mehr Betreuung benötigen oder kriminell handeln.» Der Markt habe sich aber überhaupt nicht verändert, abgesehen von ein paar kleineren Irregularitäten. So war beispielsweise in der Romandie kurzzeitig kein Haschisch mehr verfügbar, weil es auf der klassischen Lieferroute von Marokko über Spanien und Frankreich umfassende Lockdowns gab. «Ansonsten haben die Drogen ihren Weg in die Schweiz gefunden und wurden auch nach wie vor konsumiert», so Zobel. Und zwar so konstant, wie Zobel es nicht erwartet hat: «In den Abwasserauswertungen haben wir sogar den Konsum von Ecstasy festgestellt – die typische Partydroge, die in Clubs und Bars konsumiert wird. Und dies, obwohl das komplette Nachtleben geschlossen war». Dabei wurden die üblichen Unterschiede von Wochentagen und Wochenenden beobachtet. «Wahrscheinlich haben die Leute weiterhin Party gemacht», schlussfolgert Zobel. Bei den Drogen auf der Strasse gab es im Vergleich zu vor der Pandemie weder Unterschiede in der Qualität noch in der Reinheit. «Sogar mit allen Hindernissen der Pandemie, mit einer total unüblichen und unerwarteten Situation, kamen die Drogen und nichts wurde gestoppt», so Zobel. Thilo Beck sieht diesen Fakt als Beweis, wie resilient der Markt ist: «In der Politik existiert ein tiefer Glaube, dass Drogenhandel unterbunden werden kann», bedenkt Beck. «Es gibt überhaupt keinen Beleg dafür, dass das möglich wäre.»

Im Rahmen der Aufarbeitung der Erkenntnisse aus der Covid-19-Pandemie hat das Bundesamt für Gesundheit BAG ein Gespräch zwischen Suchtexpertinnen und -experten initiiert. Das Gespräch ist auf Video aufgezeichnet worden, zu dem auf prevention.ch dieser und ein weiterer, zusammenfassender Artikel publiziert werden. Die Fachleute haben über die Auswirkungen der Pandemie auf den Suchtbereich, aber auch über die Notwendigkeit, die Drogenpolitik weiter zu reformieren, diskutiert.

Die Diskussion, die Schlussfolgerungen und die Empfehlungen in diesem Gespräch, bilden die Haltung und Gedanken der einzelnen Expertinnen und Experten ab. Sie können daher von der Meinung und den Positionen des BAG abweichen.

Folgende Personen haben mitdiskutiert:

  • Thilo Beck, Co-Chefarzt Arud, Zürich
  • Barbara Broers, Professorin für Suchtmedizin und Suchtmedizinerin HUG, Genf
  • Carl Hart, Professor Neurowissenschaften und Psychologie Columbiama University, New York
  • Frank Zobel, Vizedirektor und Co-Leiter des Forschungssektors Sucht Schweiz, Lausanne
  • Romain Bach, Co-Generalsekretär GREA, Lausanne (Moderation)
Experten red

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Expertengespräch: Covid-Pandemiebewältigung im Suchtbereich

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