Psychische Gesundheit gehört in jeden Politikbereich

Wie kann die Schweiz in den «mentalen Wohlstand» investieren? Diese Frage diskutieren Fachleute an der Public Health Conference 2025. Daniel Frey, Vorstandsmitglied von Public Health Schweiz, hat sich bereits intensiv damit auseinandergesetzt. Er erklärt im Interview, wo Handlungsbedarf besteht, warum der Ansatz «Mental Health in all Policies» Sinn macht und wieso gerade jetzt ein guter Zeitpunkt für mehr Engagement ist.

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Daniel Frey ist Vorstandsmitglied von Public Health Schweiz. Der Zukunftsrat U24 hat Politik und Verwaltung dazu aufgefordert, mehr für die psychische Gesundheit der jungen Bevölkerung auf nationaler Ebene zu tun. Im Auftrag des BAG erstellt Public Health Schweiz deshalb eine Auslegeordnung von bereits vorhanden Angeboten.

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Warum führt Public Health Schweiz eine Tagung mit dem Titel «in den mentalen Wohlstand investieren» durch?

Daniel Frey: Laut der WHO gibt es keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit. Das heisst: die Basis für ein gelingendes Leben ist stark von der psychischen Gesundheit abhängig. In den letzten Jahren hat sich die psychische Gesundheit verschlechtert, vor allem jene junger Menschen. Nicht nur schweizweit, sondern international. Themen sind Angststörungen, Depressionen, erhöhte Suizidalität, mehr Notfälle in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, sehr viel mehr IV-Anmeldungen von jungen Menschen aus psychischen Gründen. Dies nicht erst seit der Covid-19-Pandemie – die Entwicklung zeigt sich schon seit 10-15 Jahren.

Was verstehen Sie unter «mentalem Wohlstand»?

Das ist das durchschnittliche seelische Wohlbefinden einer Gesellschaft. Man kann es auch mit Resilienz bezeichnen: Wie widerstandsfähig, wie psychisch stark ist eine Gesellschaft? Wie krisenfest, wie fähig, auch Probleme zu lösen? Dabei geht es nicht um das Individuum allein, sondern um die gesamte Gesellschaft mit ihren politischen, administrativen und gesellschaftlichen Institutionen. Deren Zustand wirkt wiederum unmittelbar auf jedes einzelne Mitglied der Gemeinschaft zurück.

Und wie kann man in diesen Wohlstand investieren?

Mentaler Wohlstand erfordert mehr als einzelne Massnahmen wie Sport treiben oder gesund essen – auch wenn solche Schritte wichtig sind, entsteht nachhaltige Wirkung erst aus einer umfassenden gesellschaftlichen Gesamtperspektive. Wir sprechen auch von «Mental Health in all Policies». Dazu gehören gesunde Schulen, Unterstützung von gefährdeten Familien oder eine gute Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit mentalen Problemen. Es geht auch um das Vertrauen von jungen Menschen in die Problemlösefähigkeit von Entscheidungsträgern, um Verkehrspolitik...

Um Verkehrspolitik?

Ja, um Verkehrs- und Siedlungspolitik: Versetzen Sie sich in Menschen, die in Quartieren aufwachsen, wo es keine Spielmöglichkeiten und wenig Freizeitmöglichkeiten gibt - wo die Familien durch die Verkehrssituation, durch Lärm, durch schmutzige Luft usw. benachteiligt und gefährdet sind. Das beeinträchtigt die Gesundheit nachgewiesenermassen. Wie gesagt: Wir müssen im Sinne einer «Mental Health in all Policies» investieren.

Was droht, wenn wir das nicht tun?

Es ist ja nicht so, dass wir aktuell nicht investieren. In der Schweiz wird relativ viel gemacht. Vielleicht nicht überall das Richtige, und auch zu wenig koordiniert. Wenn wir uns der Thematik nicht gezielter widmen, werden die psychischen Erkrankungen vermutlich noch ansteigen, was neben dem menschlichen Leid auch Kosten verursacht. Schon heute gehören die psychischen Erkrankungen zu den kostenträchtigsten Belastungen im Gesundheitswesen. Und wenn Menschen unzufrieden sind, kein gutes Leben führen und sich seelisch nicht gut fühlen, kann das auch zu sozialen und gesellschaftlichen Spannungen führen. Anderswo – wo eben der mentale Wohlstand geringer ist als bei uns – sehen wir bereits vermehrte Polarisierung und die Gefährdungen der demokratischen und sozialen Institutionen.

In den letzten Jahren ist das Thema der psychischen Gesundheit stärker ins öffentliche Bewusstsein gelangt...
Das hat mit einer gewissen Entstigmatisierung zu tun, die auch dank verschiedener Kampagnen stattgefunden hat. Inzwischen melden sich mehr Menschen bei Fachstellen, statt Probleme lange für sich zu behalten. Psychische Krankheiten sind weniger stigmatisiert und werden in der Gesellschaft offener diskutiert – auch wenn weiterhin Tabus bestehen. Öffentliche Personen, z.B. aus Sport und Politik, haben mit eigenen Erfahrungen den Diskurs gestärkt und das Klima für offene Gespräche verbessert.

Der Zukunftsrat U24 hat Politik und Verwaltung dazu aufgefordert, mehr für die psychische Gesundheit der jungen Bevölkerung auf nationaler Ebene zu tun. Im Auftrag des BAG erstellen Sie mit Public Health Schweiz eine Auslegeordnung von bereits vorhanden Angeboten. Was sind die bisher wichtigsten Erkenntnisse?

Die Auslegeordnung wird sehr umfangreich. Wir gliedern die Erkenntnisse in sechs Themenbereiche:

  • Versorgungs- und Unterstützungsstrukturen
    Wenn man Krankheiten frühzeitig erkennt und auch behandelt, hat das einen starken präventiven Effekt, indem sich diese Krankheiten nicht verschlimmern. Prävention muss aber auch bereits vor einer Therapie ansetzen. In der Schweiz gibt es eine grosse Vielfalt an Angeboten – in Schulen, in der Freizeit und in anderen Bereichen. An der Menge mangelt es nicht, doch die föderale Struktur führt zu einer starken Zersplitterung. Für Betroffene wie Fachleute ist es schwierig, den Überblick zu behalten: Welche Angebote gibt es, wer bietet sie an, welche sind wirksam, und wie kann man sie nutzen? Weiter bestehen Lücken in bestimmten Bereichen sowie ein Mangel an Fachpersonen – sowohl in der therapeutischen Versorgung als auch im schulnahen Umfeld, etwa bei Schulsozialarbeitern. Hinzu kommt, dass vor allem gefährdete Gruppen bestehende Angebote oft nicht erreichen: Sie wissen zu wenig darüber, oder der Zugang ist zu aufwändig. Fehlende Niedrigschwelligkeit und Zugänglichkeit sind daher zentrale Probleme in der Prävention und Versorgung.
  • Forschung, Daten und Monitoring
    Fachleute wie auch Jugendliche betonen, dass es an verlässlichen Daten fehlt – insbesondere zu bestehenden Angeboten und deren Wirksamkeit. Häufig wissen wir nicht, ob Massnahmen tatsächlich wirken. Besonders gross sind die Datenlücken bei Kindern und Jugendlichen, vor allem bei unter Zehnjährigen. Der Zukunftsrat U24 sieht hier eine hohe Priorität für Forschung, Monitoring und eine bessere Koordination bestehender Aktivitäten. Neben Wirkungs-Evaluationen wünschen sich Jugendliche auch praxisorientierte Informationen – „Daten für Taten“ – die bei der Planung konkreter Massnahmen berücksichtigt werden. Wichtig ist zudem eine stärkere partizipative Forschung, bei der Betroffene, insbesondere junge Menschen, aktiv in Forschungsdesign, Durchführung und Auswertung eingebunden werden.
  • strukturelle und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
    Sowohl Jugendliche als auch Fachleute und die Eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen betonen den Mangel an Koordination in der Entwicklung, Finanzierung und Umsetzung von Massnahmen. Dies betrifft sowohl die Zusammenarbeit zwischen den föderalen Ebenen als auch zwischen verschiedenen Fach- und Politikbereichen. Psychische Gesundheit ist ein Querschnittsthema, das eng mit Bereichen wie Suchtprävention, Sport und Bewegung oder Sozialpolitik verbunden ist – dennoch wird oft in isolierten „Silos“ gearbeitet. Ein zentrales Defizit ist das Fehlen eines übergeordneten nationalen Rahmens, etwa in Form eines Präventions- oder Gesundheitsgesetzes, wie es 2013 abgelehnt wurde. Dieses Fehlen verbindlicher Strukturen empfinden viele als grossen Mangel. Zwar lässt sich das föderale System nicht ändern, aber wir können seine Vorteile besser nutzen und die Nachteile gezielt ausgleichen.
  • Früherkennung und Frühintervention
    Die meisten psychischen Probleme in der Bevölkerung entstehen früh: Rund 50% beginnen bereits bis zum Alter von 15 Jahren, darunter Angststörungen, Depression, Suizidgedanken oder Essstörungen. Etwa 75% der psychischen Probleme in der Bevölkerung beginnen bis zum 25. Lebensjahr. Dennoch werden viele dieser Erkrankungen zu spät erkannt und diagnostiziert, und oft vergeht zu viel Zeit bis zum Beginn einer Therapie. Gründe dafür sind der Mangel an Fachkräften und die geringe Sensibilisierung in den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen – insbesondere in Schulen und Vorschulen. Deshalb sind Früherkennung und Frühintervention zentrale Themen in der Prävention psychischer Erkrankungen.
  • Schule/Bildung
    Für eine wirksame Früherkennung und Frühintervention psychischer Probleme braucht es mehr Bildung und Unterstützung für Schulen und Eltern. Neben digitalen Angeboten und frühen Bildungsprogrammen für werdende Eltern gibt es beispielsweise auch Peer-to-Peer-Ansätze, bei denen Jugendliche mit eigener Erfahrung andere unterstützen.
    Die Schule ist ein zentraler Lebensraum: Hier treffen junge Menschen auf schulische und soziale Herausforderungen. Gerade selbstrapportierter Schulstress hat in den letzten Jahren zugenommen – besonders bei Mädchen. Entscheidend ist, dass Lehrpersonen mit externer Unterstützung, etwa durch Schulpsychologen oder Schulsozialarbeiter, Symptome früh erkennen und handeln können. Neben fachlicher Qualifikation spielt das Schulklima eine zentrale Rolle. Ein unterstützendes, offenes Umfeld, in dem Probleme angesprochen werden können, fördert sowohl das psychische Wohlbefinden als auch die Lernleistungen. Die Schulleitung trägt hier als Teil des schulischen Gesundheitsmanagements eine Schlüsselverantwortung. Während einige Schulen bereits stark daran arbeiten, besteht hier insgesamt ein grosser Handlungsbedarf.

    Ein weiteres Thema ist die Stärkung der Medienkompetenz – sowohl der Eltern selbst wie auch durch die Eltern und im schulischen Kontext. Dazu gehören Debatten über den Einsatz digitaler Medien in Schulen bis hin zu möglichen Smartphone-Verboten. Die Vielfalt der Ideen und Handlungsfelder zeigt, dass hier keine einzelne Institution allein verantwortlich ist, sondern eine breite Zusammenarbeit notwendig ist.
  • Arbeitswelt
    Die Arbeitsbedingungen beeinflussen das Wohlbefinden. Ziel ist es, ähnlich wie bei der Suva, nicht nur physische, sondern auch psychische Gefährdungen systematisch zu berücksichtigen. Diskutiert werden zahlreiche Vorschläge zur Sensibilisierung am Arbeitsplatz.

Wer trägt die Verantwortung, die bestehenden Lücken zu schliessen?

Es ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Die Verantwortung für psychische Gesundheit liegt nicht nur beim Einzelnen, sondern auch bei Schulen, Institutionen, Politik und Gesellschaft. Besonders bei Kindern und Jugendlichen trägt der Staat eine klare Fürsorgepflicht. Gesundheit ist damit nicht primär eine Privatsache, sondern ein gemeinsames Gut, für das wir alle Verantwortung tragen. Die Gesundheitskompetenz muss über Schulen, Institutionen und die Politik gefördert werden.

Im Mai haben die wichtigsten Akteure im Bereich der psychischen Gesundheit von Jugendlichen an einem runden Tisch die Forderungen des Zukunftsrats priorisiert. Was drängt am meisten?

Am runden Tisch wurden zwei Prioritätenbereiche deutlich:
1. Die strukturelle Ebene: Gesetzliche Rahmenbedingungen haben höchste Priorität, um Prävention und Gesundheitsförderung klar zu regeln, Doppelspurigkeit zu vermeiden und mehr Koordination zu schaffen. Für Jugendliche und Fachwelt ist klar: Es braucht ein Präventions- bzw. Gesundheitsgesetz, um Kompetenzen, Verantwortlichkeiten und Finanzierung festzulegen. Da stellt sich aber natürlich die Frage, wie das politisch umsetzbar ist. Es braucht mehr Druck – und der kommt nun auch von den Jugendlichen selbst.
2. Die Verhaltensebene: Wichtige Massnahmen sind die Stärkung der Kompetenzen bei Eltern in Erziehungs- und Gesundheitsfragen sowie in Früherkennung von Problemen. Dazu gehört auch eine bessere Zugänglichkeit von Angeboten für gefährdete Familien, insbesondere in der vorschulischen Phase. Auch die Qualifikation von Lehrkräften, die Förderung von Medienkompetenz und präventive Ansätze im Freizeitbereich sollen gefördert werden.

Sie initiieren eine Allianz, um die psychische Gesundheit von Jugendlichen zu stärken. Können Sie mehr dazu sagen?

Die Allianz ist im Aufbau. Sie wird breit aufgestellt sein, mit Dachorganisationen aus Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kinderpsychologie, Sozialarbeit, Pro Mente Sana, Pro Juventute und UNICEF. Und natürlich sind auch die Jugendlichen selbst Teil der Allianz. Die Allianz will vor allem politisch Einfluss nehmen. Sie will dafür sorgen, dass die Empfehlungen des Zukunftsrates umgesetzt werden und sie will auch neue Präventionsmassnahmen entwickeln, z. B. digitale Angebote oder Peer-to-Peer-Angebote.

Was möchten Sie Fachleuten aus Gesundheitsförderung und Prävention mitgeben?

Wir haben jetzt ein günstiges Zeitfenster, um die psychische Gesundheit in der Bevölkerung gemeinsam voranzubringen. Das Bewusstsein ist da. Die Jungen haben uns mit den Empfehlungen des Zukunftsrates ein Angebot gemacht. Wir müssen sie ernst nehmen und die Gelegenheit ergreifen. Und wir müssen sie einbeziehen - sie wollen sich engagieren.

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