«Viele Menschen wissen nicht, wie schädlich Zucker tatsächlich ist»
Anne Christin Meyer-Gerspach und Bettina Wölnerhanssen forschen zu den Auswirkungen des Zuckers auf den Körper. Ihre Botschaft ist klar: Der Zuckerkonsum in der Schweiz muss reduziert werden. Die schädlichen Auswirkungen des Zuckers betreffen die ganze Bevölkerung, nicht nur Personen mit erhöhtem Gewicht. Aufklärung steht für die beiden Forscherinnen an erster Stelle: Die Menschen sollen wissen, was sie sich antun.

Artikeldetails
Was sind gute Argumente, um an «MAYbe Less Sugar» teilzunehmen?
Wir nehmen in der Schweiz zu viel Zucker zu uns – pro Person jährlich etwa 43 Kilogramm. Im Durchschnitt konsumiert die Schweizer Bevölkerung ein Vielfaches der empfohlenen Zuckermenge. Die Aktion «MAYbe Less Sugar» ermöglicht, den eigenen Konsum zu hinterfragen und für eine gewisse Zeit den Verzicht auszuprobieren.
Was passiert im Körper, wenn wir Zucker essen?
Zahlreiche Organsysteme nehmen Schaden, wenn man regelmässig zu viel Zucker isst. Die Mundgesundheit ist ein ganz wichtiger Punkt: Karies wird hauptsächlich von Zucker verursacht. Dieses Wissen ist in der Bevölkerung verbreitet. Aber Zucker greift eben auch andere Organsysteme an, wie die Blutgefässe. Durch den erhöhten Blutzuckerspiegel altern die Blutgefässe schneller. Das Kollagen, also das für die Elastizität der Gefässe, der Haut, der Gelenke und der Linse verantwortliche Strukturprotein, altert ebenfalls schneller und verliert seine Elastizität. Die Folge der angegriffenen Blutgefässe sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen und verstärkte Alterungsprozesse. In der Leber wird aus Zucker Fett hergestellt und die Leber büsst durch die Verfettung an Funktion ein. Auch die Psyche leidet: der ständig stark schwankende Blutzuckerspiegel führt zu Stimmungsschwankungen. Von all diesen Auswirkungen sind nicht nur Übergewichtige betroffen, sondern auch Normalgewichtige, die zu viel Zucker zu sich nehmen.
Ähnlich wie Alkohol kann Zucker die Leber verfetten?
Zucker – insbesondere der Fruktoseanteil – wird vom Lebergewebe weiterverarbeitet. Dort führt es zu einer Belastung der Leberzellen, die dann verfetten und im Maximalfall zugrunde gehen können.
Die Zuckerreduktion hat viel Potential für die Prävention von nichtübertragbaren Krankheiten...
Zuckerkonsum erhöht den Blutzuckerspiegel und die Blutfette, hat Auswirkungen auf das Herz, auf Gefäss- und Lebergesundheit. In hohen Dosen kann auch die Niere geschädigt werden durch den Anstieg der Harnsäure. Weniger Zucker ermöglicht bessere Werte.
Macht Zucker abhängig?
Ja. Zucker aktiviert das dopaminerge Belohnungssystem im Gehirn – ähnlich wie Nikotin oder Kokain. Zuckerreiche Lebensmittel können zu einem Verlangen und einem Gewöhnungseffekt führen. Bei Zuckerentzug kommt es zu typischen Entzugssymptomen. Bei Kindern kann man das sehr deutlich beobachten. Wenn man ihnen Süsses wegnimmt, äussert sich bei ihnen ein sehr starkes Verlangen. Dieses Verlangen kann man jedoch brechen, wenn man ihnen eine Zeit lang nichts Süsses gibt. Die Geschmackrezeptoren gewöhnen sich an weniger Süsse.
Wenn man nicht auf Zucker verzichten will: Was ist der bestmögliche Zeitpunkt für Süsses?
Direkt nach der Einnahme einer Mahlzeit, als Dessert. Dann wird nicht die ganze Zuckermenge aufgenommen. Süsses zwischendurch, als Znüni oder Zvieri, generiert viel höhere Blutzuckerspitzen. Nimmt man Süsses nach der Mahlzeit, reduziert man diese Peaks.
Ist das auch der Grund, wieso ich mir eher eine Frucht in der ursprünglichen Form gönnen sollte, als ein Glas Fruchtsaft zu trinken?
Der Effekt ist der gleiche. Beim Fruchtsaft sind die Zellen zerstört und die Fasern verkleinert, es kann viel mehr Zucker aufgenommen werden. Aber natürlich macht auch die Menge einen Unterschied: Ein Glas Orangensaft enthält vier bis fünf Orangen, während ich sonst nur eine Orange esse.
Welche Lebensmittel haben besonders viel «versteckte Zucker»?
Versteckte Zucker finden wir mittlerweile in sehr vielen Produkten, bei welchen wir es nicht vermuten würden: Fertigsaucen, Krautzubereitungen, Snacks, die eigentlich salzig schmecken, aber auch Zucker enthalten. Auch Joghurt, Muesli und getrocknete Früchte oder Fruchtmus – die ja gesund wirken – enthalten zum Teil viel Zucker. All dies summiert sich über den Tag.
Haben natürliche und zugesetzte Zucker unterschiedliche Effekte auf die Gesundheit?
Nein. Die Auswirkungen auf den Körper sind dieselben.
Essen hat oft viel mit Gewohnheiten zu tun – man hat gewisse Geschmackvorlieben. Wie kann ich eine zuckerreiche Ernährung nachhaltig umstellen?
Eine schrittweise Reduktion des süssen Geschmacks ist wahrscheinlich einfacher, als ein radikaler Zuckerverzicht. Mit der Zeit gewöhnt sich das Süssempfinden an die neue Süsse – die Geschmacksknospen auf der Zunge normalisieren sich wieder.
Sind Süssstoffe eine Alternative?
Süssstoffe können helfen, den Zucker teilweise zu ersetzen – aber sicher nicht 1:1. Der Zucker ist das Problem, der süsse Geschmack. Wir konsumieren so viel zu viel Zucker, dass es in erster Linie um eine Reduktion des süssen Geschmacks gehen muss. Erst in einem zweiten Schritt sollten Süssstoffe als Alternative in Frage kommen. Auch Süssstoffe haben Auswirkungen auf den Körper und sollten nicht im Übermass konsumiert werden. Zu Süssstoffen braucht es insgesamt noch mehr Forschung. Weitere Alternativen wären auch Zuckeraustauschstoffe wie Xylit, Erythrit oder Sorbit.
Sie haben 2023 das Zuckermanifest mitverfasst. Was war die Hauptmotivation dafür?
Im Gespräch mit zahlreichen Menschen zeigt sich immer wieder, dass wenig Wissen vorhanden ist. Viele Menschen wissen nicht, wie schädlich Zucker tatsächlich ist. Das ist frustrierend und sollte dringend geändert werden.
Ab wann ist Zuckerkonsum nicht mehr eine individuelle Entscheidung, sondern ein gesellschaftliches Problem?
Die Folgekosten werden von der ganzen Gesellschaft getragen. Somit liegt es in unser aller Interesse, den Konsum möglichst tief zu halten. Insbesondere an öffentlichen Einrichtungen wie Schulen sollte das Angebot limitiert werden. Snack-Automaten oder Süssgetränke beispielsweise sind allgegenwärtig. Mit wenigen Massnahmen könnte man schon viel erreichen.
Was wären insgesamt die effektivsten Massnahmen zur Reduktion Zuckerkonsum?
Aufklärung steht an erster Stelle: die Menschen müssen wissen, was sie sich antun. Aber Aufklärung alleine reicht nicht. Es wichtig, dass die Deklaration eindeutig ist. D.h. die Lebensmittel müssen deutlich und verständlich angeschrieben sein. Für Zucker werden so viele verschiedene Namen verwendet, dass die Konsumentinnen und Konsumenten unmöglich den Durchblick haben können.
Welche Verantwortung trägt die Lebensmittelindustrie?
Sie trägt eine grosse Verantwortung: Bei der Werbung, die sich gezielt an Kinder richtet, bei der ungenügenden Transparenz und schliesslich bei den gewählten Dosen, die durchaus tiefer sein könnten. Oft bieten Produzenten inzwischen eine zuckerreduzierte Variante an, die eigentliche zuckerhaltige Produktlinie bleibt bestehen. Nachhaltiger wäre, nur die Produktelinie mit weniger Zuckergehalt anzubieten.
Das Zuckermanifest verlangt, das insbesondere Kinder geschützt werden müssen. Warum ist die Zuckerreduktion gerade bei dieser Zielgruppe so wichtig?
Im Kindesalter werden die Ernährungsgewohnheiten geprägt. Das ist eine ganz wichtige Alterskategorie. Zudem ist der Stoffwechsel bei den Kindern verletzlicher gegenüber Zucker, weil sich der Körper noch im Wachstum befindet. Dazu kommt, dass die Menge des Zuckers für die kleineren Körper folgenreicher ist: Das gleiche Lebensmittel mit der gleichen Zuckermenge wirkt bei Erwachsenen anders als bei Kindern.
Kinder lieben und fordern Süsses. Wie geht man mit dem um?
Die Menge beziehungsweise die Dosis limitieren und Süsses als etwas Besonderes, Einmaliges deklarieren. So wie das früher auch war: ein Luxus, den man sich seltenerweise gönnt.
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