Angemessene Suchthilfe trotz Pandemie: Interview mit Vincent Masciulli

Die Stiftung AACTS (Addiction, Action Communautaire, Travail Social: Sucht, Gemeinschaftsmassnahmen, Sozialarbeit) in Vevey ist eine Anlauf-, Begleit- und Präventionsstelle für Personen, die von Suchtproblemen betroffen sind. Direktor Vincent Masciulli berichtet im Interview, wie die Stiftung ihre niederschwelligen Angebote zur Schadensminderung während der Covid-19-Pandemie aufrechterhalten konnte.

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Auch während der Pandemie benötigen Personen, die auf Angebote der Suchthilfe, wie z.B. Kontakt- und Anlaufstellen oder aufsuchende Suchthilfe angewiesen sind, entsprechende Begleitung und Beratung. Wie haben Sie die Arbeit im Feld in dieser Zeit erlebt?

Vincent Masciulli: Als intensiv, innovativ und komplex. Wir spürten bereits ab Ende Dezember 2019, dass uns ein Umbruch, ein aussergewöhnliches und kompliziertes Ereignis bevorstand. Daher trafen wir vorsorgliche Massnahmen und bereiteten uns mental auf eine tiefgreifende Veränderung unserer Arbeitsweise vor. So setzten wir drei Tage nach der Bekanntgabe der ersten Schutzmassnahmen einschneidende operative Entscheidungen um: Wir haben unsere Betreuungseinrichtung zweigeteilt, um Personen, die unbedingt Unterstützung und soziale Bindungen benötigten, besser aufnehmen zu können. Durch diese Teilung konnten wir die Abstandsregeln umsetzen und die Personenströme trennen. Um Kreuzkontaminationen zu vermeiden, kamen manche Mitarbeitende des Teams etwa 16 Wochen lang nicht mehr miteinander in Kontakt. Das war eine kleine Revolution für uns.

Masciulini
Vincent Masciulli, Direktor der Stiftung AACTS

Was war in den letzten zwei Jahren besonders herausfordernd? Wie sind Sie damit umgegangen?

Unsere Priorität blieb natürlich, den Zugang zu den Leistungen und deren Qualität aufrechtzuerhalten. Es galt, Menschen in einem gesellschaftlichen Wandel zu begleiten, ohne organisatorische oder verbale Gewalt anzuwenden. Wir entschieden uns deshalb dafür, für den gesamten Zeitraum strenge Massnahmen zu treffen. Damit wollten wir zu häufige Veränderungen vermeiden, die unser Zielpublikum verunsichert hätten. Diese Massnahmen galten für alle, auch für das Küchen-, das Logistik- oder das Reinigungspersonal.

Als Stiftung arbeiten wir sowohl innerhalb als auch ausserhalb unserer Einrichtung. Während der Krise mussten wir beweisen, dass wir auch unter erschwerten Bedingungen unsere Leistungen erbringen können. Wir suchten Kontakt zu Menschen in besetzten Häusern der Region und gingen auch an Orte, an die man nicht immer geht. So versuchten wir herauszufinden, welche konkreten Fragen sich stellen. Wir haben Beratung angeboten und ganz allgemein eine Verbindung zu einem potenziell gefährdeten Zielpublikum aufgebaut und gestärkt. Das sind Verbindungen, die Bestand haben werden.

Die Schutzmassnahmen haben für Institutionen im Suchtbereich viel Aufwand verursacht. Wie haben sich die Institutionen organisiert?

Wir erfuhren Solidarität aus der Region. Unsere Einrichtung war stark von allen Schliessungen betroffen. Wir mussten nach alternativen Mitteln und Wegen suchen. Bei der Verpflegung half uns zum Beispiel ein Gastronomiebetrieb in der Region, indem er die Mahlzeiten zubereitete und in Tupperware abfüllte. Unsere Klientinnen und Klienten holten diese ab und brachten sie wieder zurück. Um eine soziale Bindung aufrechtzuerhalten, assen wir mit ihnen im öffentlichen Raum.

Eine wesentliche Herausforderung bestand darin, den Zugang zu Verbrauchsmaterial zu gewährleisten. Die Mitarbeitenden, aber auch die gesamte Institution und der Stiftungsrat haben gemeinsam nach guten Lösungen gesucht und eine Zusammenarbeit mit regionalen Apotheken aufgebaut. Diese kollektive Intelligenz ermöglichte – auf manchmal überraschende Weise – die rasche Umsetzung gesunder und nachhaltiger Lösungen. So konnten wir die Anforderungen von Bund und Kanton umsetzen.

Diese Situation war für Ihre Einsatzkräfte vor Ort nicht gerade einfach, oder?

Unsere Sozial- und Gesundheitsarbeitenden mussten Sicherheitsvorkehrungen treffen. Das bedeutet, dass sie zwar verfügbar waren und selbstständig arbeiteten, aber Grenzen hinsichtlich der Verbindung von Familien- und Berufsleben setzen mussten, um ihre Gesundheit zu schützen. Es wurde ein Modell mit neuen Einsatzzeiten erarbeitet: Die Mitarbeitenden waren an weniger, dafür längeren Tagen im Einsatz. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen unterstützte uns mit ihrem Fachwissen. Gemeinsam überarbeiteten wir die Betriebskonzepte und das tägliche Arbeitspensum. Konkret setzten wir auf Arbeitszeiten mit drei statt vier Arbeitstagen, die viel Ruhezeit ermöglichen. Dieses komplexe Gleichgewicht war schliesslich schnell hergestellt und lieferte gute Ergebnisse. Dabei half natürlich auch, dass wir über geschultes Personal verfügen.

Derzeit befinden wir uns noch in der Phase der Rückkehr zur Normalität. Wir nutzen diese Phase, um den Mitarbeitenden mehr individuelles und selbstständiges Arbeiten zu ermöglichen - in einem schlankeren Rahmen und mit einem dezentralisierten Management. Anders ausgedrückt: Wir nehmen uns Zeit, um uns um das Team zu kümmern.

Welche Anregungen und Empfehlungen aus den Pandemieerfahrungen möchten Sie der Gesundheits- und Sozialpolitik mitgeben?

Das Vertrauen in engagierte Partner vor Ort ist wichtig. Während der Gesundheitskrise konnten wir handeln, weil wir uns eigenständig fühlten. Innerhalb von zwei Jahren haben sich enorm viele gute Praktiken herausgebildet. Der Bereich der Schadensminderung ist noch jung, und neue Praktiken sollten sowohl von den Behörden als auch von der breiten Öffentlichkeit besser beleuchtet und anerkannt werden.

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